„Österreichs Bild
in der EU hängt schief“
Mehr Kompromissbereitschaft und politischen Sachverstand auf europäischer Ebene fordert der ehemalige WKÖ-Präsident Christoph Leitl.
„Kärntner Wirtschaft“: Wie geht es der EU derzeit: Ist sie gesund, verschnupft oder ein Wachkomapatient?
Christoph Leitl: In Sachen Sicherheitspolitik und Migration ist sie elend beisammen, im wirtschaftlich-innovativen Bereich dank der Begabungspotenziale der Menschen ist jegliche Hoffnung vorhanden – es braucht allerdings entsprechende Rahmenbedingungen. Gerade den Fragen der Aus- und Weiterbildung, der Kombination von schulischem und beruflichem Wissen muss ein höherer Stellenwert eingeräumt werden. Das würde Europa global einen Wettbewerbsvorteil bringen.
Laut Eurobarometer ist die Unzufriedenheit mit der EU nirgends größer als in Österreich. Was läuft da schief?
Obwohl wir vom EU-Beitritt immense Vorteile haben und den größten Nutzen ziehen, ist die Bevölkerung sehr kritisch und skeptisch. Darüber wundert man sich auch im Rest Europas. Positiv ist, dass zwei Drittel weiterhin in der EU verbleiben wollen.
Warum hat sich seit dem Beitritt das klimatische Empfinden nicht verbessert?
Es hat am Anfang große Erwartungen gegeben. Da liegt es in der Natur der Sache, dass viele Erwartungen entweder nicht erfüllt worden sind oder – wenn sie erfüllt worden sind – das nicht mehr bewusst ist. Dass wir hunderttausende Arbeitsplätze gewonnen haben oder dass unsere Exportbetriebe florieren – das sind Dinge, auf die man hinweisen muss. Nicht, um sich auf Erfolgen auszuruhen oder die Dinge schönzureden. Im Gegenteil: Das Kritische soll und muss angesprochen werden. Aber man darf auch auf das Positive verweisen.
Man versteht die EU als Briefkasten für nationale Wünsche – das wird auf Dauer nicht funktionieren.
Christoph Leitl
Ehemaliger WKÖ-PräsidentGeht die Politik fahrlässig mit dem historischen Erbe der EU um? Was fehlt?
Wir müssen den Sachverstand auf der europäischen Ebene verstärken. Mir ist da derzeit zu viel Ideologie drinnen. Es braucht Leute mit einem pragmatischen Zugang. Jene, die nur Wunschvorstellungen haben und abseits jeglicher Realität agieren, soll man klar darauf hinweisen, dass sie der europäischen Idee und Gemeinschaft und damit auch Österreich keinen guten Dienst erweisen. Es geht nicht nur darum, österreichische Ideen in Brüssel zu vertreten, sondern auch europäische Ideen in Österreich zu verteidigen. Das ist ein Geben und Nehmen. Wer nur einseitig Forderungen aufstellt und glaubt, sie werden erfüllt, der täuscht sich. Wir sind nur zwei Prozent der Bevölkerung der Europäischen Union.
Missversteht man die Europäische Union als Abholstation für nationale Begehrlichkeiten?
So ist es – man versteht sie als Briefkasten für nationale Wünsche. Das wird auf die Dauer nicht funktionieren. Wer Wünsche hat, muss auch manche Kompromisse mittragen. Man setzt da große Hoffnungen auf uns und erwartet, dass wir Lösungen andenken und nicht Vetokeulen schwingend durch die Lande marschieren.
Wie zuletzt, als Österreich den Schengen-Beitritt von Rumänien und Bulgarien blockiert hat. Das hat mit europäischem Horizont …
… gar nichts zu tun. Oder wenn im zuständigen Ausschuss im Nationalrat beschlossen wird, über Mercosur nicht einmal zu verhandeln, dann greift man sich ja wirklich auf den Kopf.
Wie sieht Österreichs Bild in der EU derzeit aus?
Es hängt schief. Wir müssen es möglichst schnell wieder geraderichten, bevor der Schaden ein dauerhafter wird.
Ihr Wunsch an die EU?
Ich wünsche mir, dass ein Europa, das sich selbst als Friedensidee und Friedensgemeinschaft bezeichnet, auch aktiv mehr tut, dass es zur Wiederherstellung dieses Friedens kommt. Derzeit sind die Positionen einzementiert. Aber man muss sich bemühen, wieder in einen Dialog zu kommen.
- Christoph Leitl (75) studierte in Linz Sozial- und Wirtschaftswissenschaften bevor er die väterliche Firma Bauhütte Leitl-Werke in Eferding führte.
- Von 2000 bis 2018 war Leitl Präsident der Wirtschaftskammer Österreich, danach Präsident der europäischen Wirtschaftskammer Eurochambres.
- Im ecowing-Verlag ist jüngst „Europa und ich“ erschienen, eine Zeitreise anlässlich seines 75. Geburtstags zwischen autobiografischem Rückblick und Ausblick in die Zukunft der EU.